Schillers faule Äpfel - kleine Umfrage zum schreiberischen Alltag und schriftstellerischen Selbstverständnis

«Na, heute mal wieder richtig schön faul?» Mein Nachbar, ein an und für sich verträglicher älterer Herr, liegt breitarmig im Fenster, als ich vom Bäcker zurückkomme. Ich habe Nuss-Nougat-Kringel gekauft und biete ihm einen davon an. Er strahlt. In Vorfreude auf die süsse Sünde und weil er sich immer freut, wenn ich seiner Meinung nach der Faulheit fröne. Im Garten werkle. Zeitung lese. Oder eben den lieben langen Tag Kaffee trinke und meine Nuss-Nougat-Kringel mit ihm teile. Ich tue ihm den Gefallen und nicke. Ja, ein richtig schöner Faulenzertag sei das heute, und beeile mich, an meinen Schreibtisch zu kommen. Seit vielen Jahren zwinge ich mich, in solchen Momenten ruhig zu bleiben. Aber es gibt immer wieder Tage, an denen mich die Sprüche meines Nachbarn aufregen. Da beschloss ich, Kollegen und Kolleginnen zu fragen, wie es ihnen geht, wenn an und für sich nette Nachbarn nerven oder es an der Haustür klingelt und der Satz, den man eben hinschreiben wollte, wie eine Seifenblase zerplatzt.

Mit Hilfe von Freunden und Autorenverbänden in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde der Fragebogen zwischen 1. Oktober 2014 und 31. März 2015 verschickt. Von 180 Antworten konnten 174 (88 m., 86 w.) für die Auswertung verwendet werden: 110 (47 m., 63 w.) aus Deutschland, 11 (7 m., 4 w.) aus Österreich, 5 (2 m., 3 w.) aus Spanien, 1 (m.) aus Liechtenstein und 47 aus der Schweiz (31 m., 16 w.; davon drei französischsprachige Autorinnen und Autoren sowie ein romanischsprachiger Autor). 68% aller Kollegen (Schweiz: 56%) gab an, hauptberuflich als Autoren tätig zu sein, davon 28% (Schweiz: 18%) mit unterstützendem Nebenverdienst.

174 Antworten sind nicht signifikant, aber sie vermitteln doch eine Vorstellung vom Leben einer Schriftstellerin und öffnen vielleicht meinem Nachbarn endlich die Augen. Wir haben es natürlich schon immer gewusst, dass fast zwei Drittel der Autorinnen und Autoren (64%) eben nicht bis in die Puppen schlafen, sondern diszipliniert tagsüber arbeiten, eher vor- als nachmittags. Knapp 10% fängt sogar schon sehr früh, teils um vier Uhr morgens an. Ein Viertel schreibt dagegen, oft familien- und brotjobbedingt, abends und nachts. Wirklich gern schriftstellern zu dieser späten Stunde aber nur 17%.

62% der Befragten (Schweiz: 53%) bevorzugen zum konzentrierten Arbeiten das eigene häusliche Umfeld, Frauen häufiger als Männer. Gut die Hälfte sagt aber auch, dass sie überall schreiben können (oder umständehalber müssen). Die bevorzugten Orte: natürlich Cafés, Hotels, der Campingplatz, die Bibliothek – und Züge. Diese scheinen es kreativen Menschen besonders angetan zu haben. Vor allem die Schweizer Eisenbahnen. Rollen sie leiser über die Schienen als andere? Oder ist es die Aussicht auf die Berge, die die Schreibenden inspiriert? Wie auch immer, ein Drittel der Schweizer Autorinnen und Autoren, der Liechtensteiner Kollege mitgerechnet, geniesst den Arbeitsplatz auf Schienen. In Deutschland sind es nur 14%, und in Österreich zwei von elf. Und auch Schiffe haben dieses besondere Etwas, sagt Brigitte Schär: «Ich habe einen Sommer lang auf dem Zürichsee geschrieben. Um 11 Uhr aufs Schiff. Grosse Rundfahrt bis ans Ende des Sees. 7 Stunden später wieder zurück.»

Aber ganz gleich, wo jemand schreibt, er oder sie möchte ungestört sein. Wobei ungestört viel bedeuten kann und von absoluter Stille (Ohrstöpsel, Kopfhörer, Dunkelheit, Internetabstinenz) über Vogelgezwitscher bis zur menschlichen Geräuschkulisse im Kaffeehaus und auf der Strasse reicht. Hauptsache, es spricht einen niemand an (Enkel manchmal ausgenommen). Auch Wärme ist wichtig, ein guter Stuhl und Essen und Trinken. Spitzenreiter der Genüsse ist mit 12% der Kaffee; es folgen Tee, Alkohol, Knabbereien (meist Süsses), Tabak, Wasser und Obst. Bei Musik sind die Befragten geteilter Meinung; die eine braucht sie, der andere kann sie nicht hören. «Dagegen hat es mich nie gestört, wenn meine Frau – Pianistin, Cembalistin und Gitarristin – geübt hat, und sei es auch stundenlang gewesen», erinnert sich Max Kruse, der Vater vom Urmel aus dem Eis.

Störfaktoren Nummer eins beim Schreiben sind Telefon und jegliche Art von Lärm (je 51%), Türklingel, die Post und Flugzeugabstürze in nächster Nähe, Hund, Katz‘ und Mensch, aber auch Sorgen, Krankheit, Misserfolg, Selbstkritik, Zeitnot, Stress und Müdigkeit. Und manchmal einfach nur der ganz normale Alltag. «Lesereisen, Familienfeiern, Enkelkinder, Gäste, Einladungen», listet Ingrid Noll auf, « … aber das gehört schliesslich auch zu meinem Leben.» «Kleine Irritationen klären das Hirn», ergänzt Tim Krohn und versucht gelassen zu bleiben.

Oft amüsiert, manchmal auch verwundert haben 62% der Kolleginnen und Kollegen auf die Frage nach einem Talisman reagiert. Doch 38% (26 m., 40 w.) finden es beruhigend, gewisse Dinge als «Schreibhilfe» um sich zu wissen: Steine, kleine Figuren (mit und ohne Bezug zum jeweiligen Manuskript), ein bestimmtes Buch, Erinnerungsstücke, Stofftiere, selbst Füller und Federmäppchen. Zwei Autoren werden von ihren Hunden begleitet, neun Kollegen lieben es, wenn ihre Katzen ihnen den Rücken wärmen. Und auch Rituale gehören für einige zum Schreibbeginn: Arbeitstisch aufräumen, passende Musik suchen, Kerzen anzünden, Tee trinken, Bandagen oder Stulpen über die Handgelenke ziehen – und los geht’s.

Einmal am Schreibtisch fällt es rund 10% der Autorinnen nicht schwer, in ihre «Anderwelt » zu wechseln. Die Glücklichen! Alle übrigen ringen mehr oder weniger heftig und je nach Temperament und Tagesverfassung um den Einstieg. Mit 62% sind die Kämpfernaturen leicht in der Überzahl. «Trotzdem schreiben» ist ihre Devise. «Ich kann es mir nicht leisten, nach Lust und Laune zu schreiben», sagt Mara Laue, « … auch wenn solche ‹uninspirierten› Textteile nicht optimal sind, bringen sie mich weiter. Holperige Stellen merze ich später aus.» Wenn es dann beim Schreiben einmal hakt: Pause machen, durch den Wald joggen, im Café Leute beobachten, mit anderen sprechen, Karten spielen. Sogar jammern kann befreien. Und 8 Kolleginnen, davon 3 Schweizer, gehen unter die Dusche. Als weitere bewährte Methoden werden genannt: mit den eigenen Figuren reden, den Zettelkasten durchforsten, ein Kapitel vielleicht neu anfangen. Oder wie Gerlis Zillgens sagt: «Hände über die Tastatur und los. Die Stimmung kommt beim Schreiben.»

Aber leider ist da immer noch mein Nachbar, der nach wie vor nicht so richtig versteht, was ich den ganzen Tag über treibe. Und Freunde fragen süffisant, wann ich endlich mal so was wie Harry Potter schreibe. Und schon glaubt die Schriftstellerin sich verteidigen zu müssen. Tatsächlich haben sich 42% aller Befragten (Schweiz: 44%; Frauen insgesamt 49%) schon einmal, öfter oder ständig für ihr Schreiben rechtfertigen müssen, innerhalb der Familie und im Freundeskreis. Manchmal begegnen ihnen Ungläubigkeit, Desinteresse, Ignoranz; sie müssen falsche Klischeevorstellungen und übertriebene Glorifizierungen zurechtrücken. Da kommt es schon einmal zu Reibereien. Andererseits erlebt die Mehrheit der Kollegen aber auch grosse Unterstützung durch Partner und Kinder. «Sie gehören zu den bewundernswerten Helden der Wirklichkeit, die es aushalten, einen Teil des Jahres ignoriert und in den restlichen Monaten dringend gebraucht zu werden », ist sich Tanja Kinkel bewusst.

Dass Schreiben eine einsame Angelegenheit ist, wird fast unisono bejaht. Aber nur eine verschwindend kleine Minderheit leidet darunter. Die meisten geniessen das (zeitweilige) Abtauchen in die Isolation, brauchen es. Und allein fühlen sie sich nicht: Da seien doch alle ihre Protagonisten. «Ecrire c’est être proche des autres, les sentir, les comprendre, les écouter. Ecrire, c’est être dans le monde et à côté de lui», sagt Mélanie Richoz. («Schreiben bedeutet, nah bei den anderen zu sein, sie zu spüren, zu verstehen, ihnen zuzuhören. Schreiben heisst, mitten im Leben zu sein und gleichzeitig abseits der Welt.»)


Den ausführlichen Bericht sowie eine Liste mit Büchern zum Thema, z.T. auch von befragten Kollegen und Kolleginnen, finden Sie auf der Homepage der Autorin: www.petra-reategui.de.

Petra Reategui

Dolmetscher- u. Soziologiestudium, seit 1978 zunächst freie Journalistin, dann Redakteurin bei der Deutschen Welle in Köln/Bonn. Reportagereisen nach Afrika, Asien und Lateinamerika. Seit 2004 freie Autorin. Sie schreibt historische Kriminalromane, Kurzprosa, Radiofeatures und übersetzt Literatur und Essays aus romanischen Sprachen und dem Englischen.